Charlotte Gneuß: Gittersee

Charlotte Gneuß credit Alena Schmick

Die Preise sprechen für sich: Charlotte Gneuß überzeugt mit ihrem viel diskutierten Debütroman „Gittersee“

von Gérard Otremba

Als Literaturkritiker möchte man sich prinzipiell nur und ausschließlich mit dem jeweiligen Werk auseinandersetzen. Im Fall des Romans „Gittersee“ von Charlotte Gnauß ist dies kaum mehr in dieser Form möglich, weil nutzlos-absurde Debatten, wer über was schreiben dürfe, einem den Job vemaledeien. Charlotte Gneuß wurde 1992 in Ludwigsburg geboren, schreibt aber in ihrem Debütroman „Gittersee“ über die DDR des Jahres 1976, wo einst ihre Eltern lebten. Für einige Anlass genug, die Authentizität der Autorin in Zweifel zu ziehen, weil sie die Zeit selbst nicht erlebt habe und sich einer gewissen kulturellen Aneignung schuldhaft mache.

Charlotte Gneuß und die Realität in Dresden-Gittersee

Charlotte Gneuß Gittersee Cover S. Fischer Verlag

Auf die Spitze getrieben hat die Diskussion die von Ingo Schulze erstellte „Mängelliste“ mit Korrekturvorschlägen, die plötzlich in der Presse (wo sie nichts zu suchen hat) auftauchte. Charlotte Gneuß hat einige dieser Vorschläge aufgegriffen, andere bewusst nicht. Und der Kollege Christoph Schröder hat bei Deutschlandfunk.de einen passenden Kommentar zu dieser grotesk wirkenden Debatte geschrieben. Denn an der Qualität des Buches ändert sich in der Tat nicht viel, ob nun die Realität von Charlotte Gneuß in einigen Punkten für manche unrealistisch dargestellt worden ist, oder nicht. Die Realität in Dresden, Stadtteil Gittersee, im Jahr 1976: Paul, der Freund der 16-jährigen Karin ist verschwunden. Der Vorwurf: Republikflucht.

Paul hatte Karin noch gefragt, ob sie Lust auf ein Abenteuer habe. Aber sie muss ja auf die kleine Schwester aufpassen, denn der Vater trinkt zu viel, die Mutter kommt frustriert nicht mit ihrem Leben klar und die Großmutter flüchtet sich in einen Kommunismus hassenden Zynismus.

Die Einsamkeit der Protagonistin

Und nach Pauls Verschwinden und der ersten Befragung kreuzt ständig ein Polizist ihre Wege, um mehr über das Umfeld des Geflüchteten zu erfahren. Karin ist gewitzt genug, ihm nicht auf den Leim zu gehen und führt ansonsten ein typisches Teenagerleben zwischen Verliebtsein, Einsamkeit und Eifersüchteleien auf ihre beste Freundin Marie. Das Gefühl, von Paul im Stich gelassen worden zu sein, nagt an der Ich-Erzählerin dieses Romans, sie vermisst ihn, die Sehnsucht ist groß: „Seit Paul fortgegangen war, war jeder Tag ein Tag ohne ihn. Und jeder Tag änderte die Erinnerung. Ich wünschte, ich hätte wenigstens ein Foto von ihm, doch ich hatte nur diese Skizzen, die Bahngleise, die Ferse, das Gartenhaus die Steinfunde von der Ostsee. Wenn er jetzt unten stehen und pfeifen würde, was würde ich tun.“

Charlotte Gneuß und die Literaturpreise

Ohne jegliche Spur von Ausschweifungen erzählt Charlotte Gneuß lakonisch und mit punktgenauen Dialogen aus dem Leben Karins. Von der Enge der heimatlichen Umgebung in Dresden-Gittersee, ein Arbeiterviertel, in dem die Menschen vom Uranabbau leben; von der Langeweile, vom Alleinsein, der Eintönigkeit der Schule und von gelegentlichen geselligen Zusammenkünften. Gneuß erschafft mit ihrer knapp gehaltenen Sprache eine häufig atemraubende Atmosphäre, lockert diese indes wieder mit humoristischen Passagen auf. Ein starker und überzeugender Debütroman. Der verdiente Lohn: Gewinn des Aspekte-Literaturpreises, des Literaturpreises der Jürgen-Ponto-Stiftung sowie die Longlist-Nominierung für den Deutschen Buchpreis.

Charlotte Gneuß: „Gittersee“, S. Fischer, Hardcover, 240 Seiten, 978-3-10-397088-3, 22 Euro. (Beitragsbild von Alena Schmick)

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